"Baue einen größeren Tisch" - Weihnachten feiern mit Unbekannten

20. Dezember 2021 , 12:19 Uhr

Karlsruhe (dpa/lk) – Einsamkeit schmerzt an Weihnachten noch mehr als sonst. Jahr für Jahr wissen in Deutschland Tausende Menschen nicht, mit wem sie feiern sollen. Und jedes Jahr öffnen private Gastgeber ihre Türen – sie geben viel mehr als ein Weihnachtsessen. So auch ein 41-Jähriger aus Karlsruhe.

Für Fremde an Weihnachten kochen

René Reichelt ist gespannt, mit wem er in diesem Jahr Weihnachten feiert. Der 41-Jährige hofft, dass er wieder Gastgeber für einen oder mehrere Menschen sein kann, die sonst an den Festtagen niemanden hätten, zu dem sie gehen können. „Kochen muss ich sowieso, ob ich das jetzt für eine Person mache oder für zehn, macht am Ende keinen Unterschied“, sagt der Karlsruher. Seit 2018 beteiligt sich Reichelt an der Initiative KeinerBleibtAllein, die Einsamkeit vor allem an Weihnachten Gastfreundschaft und Nächstenliebe entgegensetzt.

Bundesweite Initiative KeinerBleibtAllein

„Über das Jahr kann man sich oft noch gut von der eigenen Einsamkeit ablenken, über Weihnachten wird es akut“, sagt Heike Paulus aus dem Organisationsteam. Die Initiative ist auf Twitter, Instagram und Facebook aktiv, die Berlinerin moderiert auf Facebook eine bundesweite Gruppe. Darin finden Gäste und Gastgeber zusammen, die sich sonst höchstwahrscheinlich nie über den Weg gelaufen wären. „Einsamkeit an Weihnachten ist kein Problem der Älteren, das zieht sich durch jedes Alter und alle Gesellschaftsschichten“, sagt Paulus. Es gebe aber soziale Gefüge, die häufiger seien als andere. „Unter den Weihnachtsgästen sind viele Arbeitsnomaden, die kein festes Netzwerk aufbauen konnten. Viele Menschen, die mitmachen, haben finanzielle Engpässe und sind sozial benachteiligt. Wir haben viele, die schon sehr lange einsam sind.“ Die Initiative solle ein Türöffner sein, sagt Paulus. „Wieder Kontakt finden, sich trauen und merken: Kontakt ist nichts Schlimmes.“

Einsamkeit an Weihnachten schlimmer

Experten gehen davon aus, dass in Deutschland etwa zehn bis 20 Prozent der Menschen von chronischer Einsamkeit betroffen sind. Einsamkeitsforscherin Susanne Bücker schreibt in einer Stellungnahme für den Bundestag aus diesem Jahr, Einsamkeit hänge zwar mit sozialer Isolation zusammen, sei aber nicht damit identisch. „Nicht immer fühlen sich Menschen einsam, wenn sie alleine sind. Umgekehrt können sich Menschen auch dann einsam fühlen, wenn sie objektiv nicht alleine sind.“

„Baue keine Mauer sondern einen größeren Tisch“

Gastgeber Reichelt verbringt die Festtage schon länger nicht mehr mit seiner Familie. „Es hat jeder seine eigene Art, Weihnachten zu feiern, das war einfach nie kompatibel.“ Als einsam empfindet er sich nicht. „Ich glaube, ich hätte wahrscheinlich eher alleine gefeiert als irgendwohin als Gast zu gehen. Man will ja auch niemandem zur Last fallen, der Gedanke ist so im Kopf dabei. Ich habe finanziell keine Probleme und denke mir: Wenn du genug hast, baue keine größere Mauer, sondern einen größeren Tisch.“ Seine Gäste seien vor allem Menschen mit Schicksalsschlägen gewesen, etwa mit Todesfällen von Partnern oder nahen Verwandten. Eine Frau sei eine Stunde Zug gefahren, um Weihnachten nicht allein feiern zu müssen. Reichelt erzählt, es sei einfacher und lockerer mit mehreren Gästen gewesen, zum Teil seien auch seine Nachbarn dazugekommen. „Es war schnell eine sehr ausgelassene Stimmung.“ Aber auch die Treffen mit nur einer Person hätten gut geklappt. Nervös sei er davor nie gewesen. „Die einzigen Erwartungen, die ich habe, sind an mich selbst. Und ich kann gut genug kochen, um zu wissen, dass das Essen klappt – der Rest ergibt sich.“

Gastgeber und Gäste finden sich über Facebook

Paulus von KeinerBleibtAllein sagt: „Meine Erfahrung ist: Wenn nichts erwartet wurde, sagen die allermeisten hinterher: „Es war wahnsinnig gut“. Aber natürlich gibt es auch Enttäuschungen.“ Manche treffen sich im Jahr darauf wieder, sind Freunde geworden, sogar eine Ehe ergab sich, wie sie erzählt. „Wir sind keine Single-Börse, das ist mir ganz wichtig, aber passieren kann das natürlich, dass zwei sich finden.“ Oft vermitteln die Initiatoren die Weihnachtskontakte und machen die Suchenden aufeinander aufmerksam. Teilweise verabreden sich Teilnehmenden auf eigene Faust, vor allem in der Facebook-Gruppe. Nicht jede und jeder findet jemanden, weder Gäste noch Gastgeber. „Wir versuchen unser Bestes, aber irgendwann sind unsere Kapazitäten auch erschöpft“, sagt Paulus.

Treffen wegen Corona aktuell unsicher

Jemanden an Weihnachten nach Hause einladen, die oder den man gar nicht kennt – ein mutiger Schritt. „Es braucht Mut auf beiden Seiten und auch ein bisschen Abenteuerlust“, sagt Paulus. „Das Internet kann auch ein dunkler Ort sein – deshalb empfehlen wir, vorher zu telefonieren, sich vielleicht sogar schonmal zu treffen. Man kann dann seine Realitäten abgleichen.“ Gastgeber Reichelt ist sich wegen Corona nicht sicher, ob sich in diesem Jahr jemand bei ihm meldet. 2020 pausierte die Initiative coronabedingt, in diesem Jahr ist die Lage unsicher. Treffen sollten sich nur Geimpfte und Genesene, sagt Paulus. „Stand jetzt vermitteln wir.“ Plan B für das zweite Weihnachten in Pandemie-Zeiten sind Online-Treffen. Reichelt sagt allerdings: „Da wäre ich nicht dabei – es ist schwierig, online für andere Menschen zu kochen.“

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